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DER NACHLASS - IDENTIFIKATION EINES GANZEN LEBENS

Prolog:

Meine Mutter ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Noch Monate vor Ihrem Tod konnte sie Rad fahren und die alltäglichen Dinge selber erledigen. Schlagartig spürte sie starke Schmerzen im Brustwirbelbereich. Trotz verschiedener Hinweise konnte der Hausarzt die Ursache nicht feststellen. Sie wurde von Krankenhaus zu Krankenhaus geschickt; das einzige wirksame Mittel wurde ihr nicht gegeben. Sie nahm 24 Pfund unter Schmerzen ab und schrumpfte auf 140 cm. Sie musste weiter leiden. Nach acht Monaten endlich die Diagnose: Plasmozytom. Erst jetzt erhielt sie ein wirksames Schmerzmittel.

Jede freie Minute kümmerte ich mich um sie, kochte, führte den Haushalt und fotografierte sie und die sie umgebenen Dinge. Es war das Bedürfnis meiner Mutter, alle mit ihrem Tode verbundenen Dinge zu besprechen, mir schon vorab Möbel und Inventar der Wohnung anzubieten, damit die Dinge einen neuen Platz finden, damit sie nicht entsorgt werden müssen.

Wer kann welche Möbel gebrauchen? Die Schwester das Besteck und den Schmuck, ich das Geschirr, das Sofa, etc., etc. Ich lehnte das Sofa ab, da Mutter ja noch darauf saß, und das Geschirr von dem wir aßen.


Thema:

Das über ihr gesamtes Leben hinweg erworbene Hab und Gut wird zum Verteilungs- und Entsorgungsproblem. Was soll aus dem Porzellan werden, was aus den nicht gebrauchten Tischdenken, den 40, 50 und 70 Jahre alten Besen?
Durch das Fotografieren habe ich angefangen, die Dinge in ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu bewahren. Die Identität und Kultur der über 80-jährigen Mutter kondensiert in dieser fotografischen Arbeit durch die Syntax einzelner häuslicher und privater Zuordnungen in dem von ihr geschaffenen Umfeld.

Das über ihr gesamtes Leben Zusammengetragene möchte ich durch die Fotografie bewahren. Es ist dabei wichtig, in dem Spannungsfeld von Trauer, privater Erinnerungen, subjektiven Gefühlen einen sozialanthropologischen Standpunkt und Standort einzunehmen, der auf die Philosophie hinter den Dingen verweist, denn alles im Haus hat seine Ordnung, hat seine Bestimmung, hat seinen Platz. Haben Dinge keinen Gebrauchsnutzen, so sind sie kulthaft oder haben sakralen Charakter. Eine Achtung vor den Dingen ist dabei besonders sichtbar. Der Putzlappen ist so lange in Gebrauch, bis er sich atomisiert (siehe Bild).

Das Typische hat dabei mehr Bedeutung als das Reale. Ich könnte mit der Arbeit einen wichtigen Beitrag zu einer Person (einer Generation) erstellen, die zwischen den beiden Weltkriegen sozialisiert wurde und ihrer "Welt", die sich in den sie umgebenden Dingen manifestiert, wenn dann die Hinterlassenschaft auseinandergerissen, vergeben, verschenkt, verkauft und entsorgt ist, so sind die Fotografien letztes Zeugnis einer Alltagskultur, der meiner Mutter. Die Fotografien stehen dann in den semantischen Bezügen der abgebildeten Dinge, für die Notwendigkeit dieser Dinge, die ja Ausdruck eines gesamten Lebens sind.

Knut Wolfgang Maron


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